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Zum Tod von Prof. Dr. Hans H. Reich

Professor Dr. Hans H. Reich ist am 19. Februar 2019 verstorben.
Wir verlieren mit Hans Reich einen außergewöhnlichen Wissenschaftler, einzigartigen
Mentor, den Spiritus Rector der Forschung über Migration und ihre Folgen für sprachliche
Bildung und Erziehung in Deutschland – und wir verlieren einen Freund.
Seit seiner Berufung auf die Professur für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an die
Pädagogische Hochschule Rheinland (Abteilung Neuss) im Jahr 1971 hat Hans Reich sich der
Frage gewidmet, wie Bildung gestaltet sein müsste, die allen Heranwachsenden in einer
Migrationsgesellschaft wie der deutschen gerecht werden kann. Zu den von ihm inspirierten
Pionierleistungen gehört die Gründung der „Forschungsgruppe ALfA – Ausbildung von Lehrern
für Ausländerkinder“ im Jahr 1973. In dieser interdisziplinären Forschungsgruppe (gemeinsam
mit Manfred Hohmann, Allgemeine Pädagogik, und Ursula Boos-Nünning, Soziologie) wurden
Untersuchungen initiiert, die das Problem der Qualifikation des pädagogischen Personals für
die Gestaltung von Bildungsinstitutionen und Lehr-Lernprozessen im Kontext sprachlicher
und kultureller Diversität grundlegend beleuchten. Zugleich aber entwickelte und evaluierte
die Gruppe Interventionsprojekte zur Qualifizierung pädagogischen Personals aus der Einsicht
in die Verantwortung, die die Pädagogik als angewandte Wissenschaft auch für die
Gestaltung der Bildungspraxis trägt. Die Forschungsgruppe blieb in engem Kontakt, nachdem
Hans Reich 1979 auf die Professur für Deutsch mit dem Schwerpunkt Deutsch als
Fremdsprache an die Erziehungswissenschaftliche Hochschule Rheinland-Pfalz (ab 1990
Universität Koblenz-Landau) wechselte. Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 2005 beteiligte
er sich aktiv und inspirierend an der Forschung, Entwicklung und am Transfer in Lehre und
Praxis der Bildung in der Migrationsgesellschaft.
Zu den wissenschaftlichen Pionierleistungen des Verstorbenen gehört die Initiierung einer
ersten international vergleichenden, aus Mitteln der Europäischen Gemeinschaft (so die
seinerzeitige Nomenklatur) geförderten Studie zur Frage, wie Bildungssysteme anderer
europäischer Staaten auf die zunehmende Präsenz von Kindern aus Migrantenfamilien
reagierten. Nicht nur die Sicht, dass man national und international voneinander lernen kann
und sollte, durchzieht als ein roter Faden das Werk von Hans Reich, sondern auch sein

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Vertrauen in den Wert von Kooperation in der Forschung. Den sichtbarsten Ausdruck findet
dieser Impetus in der großen Zahl an koordinierten Forschungsprojekten, die durch sein
Engagement zustande kamen und an denen er mitwirkte. Ein Beispiel ist das DFG-geförderte
Schwerpunktprogramm „Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung“, das unter
seiner Federführung eingeworben wurde (1991 bis 1997). Mit diesem Programm wurde ein
Perspektivenwechsel in der Forschung über Migration, Bildung und Erziehung eingeleitet, der
noch heute wegweisend für die Gestaltung von Untersuchungen in diesem Feld ist.
Überwunden wurde die allein auf Migranten gerichtete Aufmerksamkeit zugunsten einer
Sicht auf die Migrationsgesellschaft insgesamt, deren Mitglieder alle – wenn auch auf
unterschiedliche Weise – von der wachsenden sprachlichen, kulturellen und sozialen
Diversität in ihrer Lebenswelt betroffen sind.
Auch seine Sicht des Faches „Deutsch als Fremdsprache“ war eine besondere. Ausgangspunkt
seiner Konzeption war nicht das Interesse an Vermittlung einer Sprache in ihrer abstrakten
Gestalt, sondern an den Prozessen der Aneignung, des Lernens und des Gebrauchs von
Sprachen. Im Mittelpunkt dabei stand, die sprachlichen Bildungsvoraussetzungen der
Lernenden und die Bedingungen, unter denen ihre Sprachentwicklung geschieht, als
Grundlagen für das pädagogische Handeln ernstzunehmen – sowohl hinsichtlich der
Schwierigkeiten, die sie bereiten können, als auch mit Blick auf die Potenziale, die darin
stecken. So eröffnet er die Perspektive auf Mehrsprachigkeit als Grundlage für sprachliche
Lern- und Bildungsprozesse, aber auch als ihr Ziel. Für die Bildungspraxis entwickelte er
unterstützende Hilfsmittel – wie etwa das Instrument „Katze und Vogel“ zur
Sprachdiagnostik, das untrennbar mit seinem Namen verbunden ist.
Ein herausragendes Beispiel für die Bedeutung, die seine Konzeption auch im praktischen Feld
besitzt, ist das Modellprogramm „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund – FörMig“ (von 2004 bis 2009). Hans Reich war Mitglied der
wissenschaftlichen Begleitung des Programms. Hier kamen seine Fähigkeiten zur skrupulösen
wissenschaftlichen Grundlagenarbeit, zugleich aber der Übersetzung für andere Mitwirkende,
des Aufgreifens und gemeinsamen Weiterentwickelns von Ideen auf Augenhöhe voll zur
Geltung. Es entstanden in gemeinsamer Arbeit Konzepte wie das der „durchgängigen
Sprachbildung“, die bei bildungspolitischen Entwicklungen Pate standen, aber ebenso weitere
Forschung inspirierten. Hans Reich war ein Könner im Zuhören ebenso wie im Anregen und
Fördern; ein Gesprächspartner, der sich auf Sichtweisen anderer einließ, der vorsichtig, aber
kritisch nachfragte, der auch den Beiträgen derjenigen Gehör schenkte, die sich nur
bescheiden und verhalten beteiligten.
Hans Reich besaß das Selbstverständnis, dass Wissenschaft in gesellschaftlicher
Verantwortung betrieben wird. Diese nahm er wahr als Mitstreiter am bildungspolitischen
Diskurs, etwa in seiner Funktion als Mitglied im Rat für Migration, als Partner in der
Politikberatung und zahlreicher Initiativen der Bildungspraxis – von Kindertageseinrichtungen über Schulen bis zu Instituten der Fort- und Weiterbildung –, oder als „Anwalt“

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von Lehrkräften in schwierigen Lagen, vor allem der Lehrkräfte für den Herkunftssprachlichen
Unterricht.
Wir verlieren mit Hans Reich nicht nur den an der Weiterentwicklung des wissenschaftlichen
Wissens und zugleich der Qualität der Praxis orientierten Wissenschaftler, sondern auch den
geselligen Kenner und Genießer eines guten Essens und schönen begleitenden Weins – und
den ausgezeichneten Redner. Er hat seine Zuhörerinnen und Zuhörer fasziniert – auch wenn
(oder vielleicht gerade weil) er sich nie dazu entschließen konnte, das geschliffene Wort durch
die bunte Begleitung mit Power Point aufzulockern.
Er fehlt.

Hamburg, Berlin, Wien und Landau, im Februar 2019
Ingrid Gogolin, Ursula Neumann, Marianne Krüger-Potratz, Hans-Jürgen Krumm, Katharina
Kuhs
Kontakt: nachrufhansreich@gmx.de